BoT sei Dank

Aus alten Wurzeln wachsen frische Triebe: Von den ruhmreichen Battle-of-Twins- Harley-Davidson der achtziger Jahre führt ein direkter Weg zur Buell RSS 1200

Was bin ich? Bei Roberts Lembkes TV-Ratespiel seligen Angedenkens ("Welches Schweinderl hätten's denn gern?") wäre sie ein vortrefflicher Kandidat gewesen, denn ihr knapper Steckbrief führt heimtückisch in die Irre: Zweizylinder-V-Motor mit vier Nockenwellen, filigranes Gitterrohr-Fahrgestell mit Upside-down-Gabel und Hinterradfederung mit Monofederbein, ein fetter 170/60-Schlappen für die Kraftübertragung, eine Sechskolben-Bremszange im Vorderrad.

"Gehe ich recht in der Annahme. .." -nein, alles falsch: Der Kandidat segelt nicht unter der grün-weiß-roten Trikolore, seine Wiege steht nicht südlich der Alpen, sein Name endet nicht auf -ati oder -ota, und beim Motor keine Spur von oben liegenden Nockenwellen oder gar Desmodromik.

Buell, Beiname RSS 1200, made in USA, powered by Harley-Davidson - so lautet die Auflösung, so stellt sich das unbekannte Objekt vor, das sich in diesem Jahr anschickt, frischen Wind in die Szene exklusiver Sportmaschinen zu bringen.

Wer lacht da? So abwegig ist die Verknüpfung Harley-Davidson und Motorsport nun wirklich nicht. Die Liste der großen Harley-Erfolge auf den Dirt-Track-Ovalen würde Seiten füllen. Und dann gab es da noch die Herren Springsteen (Jay, nicht Bruce) und Church, die mit einer Renn-Harley (Kosename " Lucifers Hammer" ) von 1983 bis 1985 auf dem Daytona- Speedway das Kunststück fertig brachten, die sieggewohnte Ducati- Truppe in der BoT -Klasse erbarmungslos in Grund und Boden zu fahren.

Mit einem Motor freilich, der es faustdick unter seinen Zylinderkopfdeckeln hatte: Mehr als 100 PS wurden ihm nachgesagt, gut für mehr als 260 km/h Höchstgeschwindigkeit. Allerdings auch mit einem ausgesprochen windigen Fahrwerk, das angesichts der phantastischen Fahrleistungen mehr als ausgereizt war. Der Doppelschleifenrahmen hatte bereits mehr als zehn Jahre auf dem Buckel und war von der brachialen Kraft des 1000er Rennmotors, einer Weiterentwicklung des kampferprobten XR 750- Bahnmotors, klar überfordert.

Hier kommt nun Erik Buell ins Spiel. Der Ex-Rennfahrer und Ex-Harley-Davidson-Ingenieur dachte zu dieser Zeit im Auftrag der Firmen Vetter (Verkleidungen) und Bell (Helme) über ein zukunftsweisendes Motorradkonzept nach. Ergebnis: Ein starkes Harley-Triebwerk in moderner Verpackung, das wäre eine schöne und obendrein patriotische Lösung.

Natürlich schwebte Buell mehr vor als eine leblose Designstudie: ein renntaugliches Motorrad, das die bedrohte Harley-Vormacht in der BoT-Szene konservieren sollte, und das sich, in domestizierter Form, auch als sportliches Straßenmotorrad verkaufen ließe.

Das Verpackungsproblem ging Buell auf unorthodoxe Weise an. Er orientierte sich bei der Auslegung seines Fahrwerks - man höre und staune - an der Honda RS 500-Rennmaschine, die seinerzeit die Halbliter-Straßen-WM dominierte: Kurzer Radstand, steiler Lenkkopfwinkel und hohe Torsionssteifigkeit waren die konkreten Zielsetzungen.

Leichter gedacht als getan. Die mächtigen V2-Triebwerke beanspruchen so viel Raum zwischen den Rädern, dass für ein herkömmlich vor dem Hinterrad platziertes Zentralfederbein kein Platz blieb. Warum nicht einfach das Ding unter den Motor legen? Eine umgedrehte Dreiecksschwinge machte es möglich. Nach dem Motto "durch die Brust ins Auge geschossen" wird der Dämpfer beim Einfedern des Hinterrads halt auf Zug beansprucht und die Feder über ein Korsett von Zugankern komprimiert - was soll's, wenn's funktioniert.

Wie aber einen leichten, Rahmen schaffen, der den Triebwerksblock als versteifendes Element integriert, ohne die Gefahr heraufzubeschwören, dass der machtvoll hämmernde V2 über kurz oder lang alles in Scherben legt?

Erik Buell fand auch hier einen Ausweg. Mit Computerhilfe berechnete er einen 8,5 Kilogramm leichten Gitterverbund aus doppelwandigem Chrommolybdän-Stahlrohr, in dem er das Triebwerk auf ingeniöse Weise verankerte: Drei Gummielemente und drei mit Gelenklagern bestückte Lenker sorgen dafür, dass der Motor in Fahrzeuglängsebene - vom Rahmen abgekoppelt - seinen Vibrationen freien Lauf lassen kann, quer dazu aber den gewünschten Beitrag zur Verwindungssteifigkeit leistet.

Im Herbst 1985 war der erste Prototyp fertiggestellt, zwei Jahre später 50 weitere Exemplare, alle mit XR 1000-Motoren, die Harley-Davidson bereitwillig herausgerückt hatte. Eine Rennversion, Lucifer II getauft, trat mit Gene Church 1986 in Daytona an, doch trotz mittlerweile angeblich 112 PS und 270 km/h war den neuen Ducati nicht mehr beizukommen.

Das Austrocknen der XR 1000-Motorenvorräte und der Wunsch, endlich einmal mit dem Geldverdienen zu beginnen, führte zur Buell RSS 1200, die in Kleinserie in Mukwonago/Wisconsin gefertigt wird.

Geblieben ist das Rahmenlayout mit Federbein im Tiefparterre; kurzem Radstand und steil angestellter Gabel. Neu sind die Federungselemente von White Power, neu ist die Sechskolben-Bremszange, die sich um die einsame 320er Scheibe am Vorderrad kümmert, neu sind die Halbschale und die Tank-Sitzbank-Kombination, die die ursprüngliche barocke Vollverkleidung ersetzen und den Blick auf den hemdsärmeligen Triebwerksblock freigeben.

Verglichen mit der ruppigen, aber leistungsstarken Antriebseinheit der Ur-Buell ist das Triebwerk der RSS 1200 ein eher betulicher Geselle. Vieltausendfach verhilft er den großen Sportster-Modellen zu eher bescheidenen Fahrleistungen und um so eindrucksvolleren Vibrationen. Verbeugungen vor der Moderne sind allenfalls die Hydrostößel, die zwischen den insgesamt vier untenliegenden Nockenwellen und den Ventilen für Spielfreiheit sorgen, sowie die kontaktlose Zündung.

Leistung? Trotz des viel versprechenden Zwei-in-eins-Trakts aus Edelstahl (von Supertrap) werden nur 59 PS bei 5200/min versprochen - also acht PS weniger als in der US-Ausführung, der auslassseitig eine etwas freiere Aussprache erlaubt ist.

59 PS -damit ist die RSS 1200 meilenweit entfernt von der italienischen Zweizylinder-Konkurrenz, von den vierzylindrigen japanischen Superbikes ganz zu schweigen. Ist die Buell vielleicht doch nichts anderes als ein fettleibiger, behäbiger Eisenhaufen aus Milwaukee im modischen Jogginganzug?

Eisenhaufen mag ja sein, aber behäbig? Immerhin bringt die Buell fahrfertig lediglich 223 Kilogramm auf die Waage, außerdem ist da noch das auf dem Prüfstand gemessene stattliche maximale Drehmoment von 93 Nm, das der V2 bei maßvollen 3000/min auf die Kurbelwelle wuchtet - angesichts des stattlichen Hubraums zwar nicht weltbewegend, aber gleichwohl vielversprechend im Sinne souveräner Kraftentfaltung und schaltarmer Fahrweise.

Mit gezogenem Choke - er wird über einen vom Rennrad entliehenen Schalthebel im Dunkel der Verkleidung aktiviert - lässt sich der kalte V2-Motor beim Start nicht lange bitten. Er springt allzeit unverzüglich an und rumpelt mit leicht erhöhtem Puls willig vor sich hin.

Puls? Bei 1200/min haben die Lebensäußerungen der Buell eher den Charakter eines mittleren Erdbebens. Die Verkleidungsscheibe tanzt mit einer Amplitude von mehreren Zentimetern - doch nicht nur dieser Anblick erschüttert den Fahrer. Der leidet unter Sehstörungen und Zähneklappern - bis er sein Hinterteil aus dem Sattel hebt und sich so vom bebenden Untersatz abkoppelt.

Glücklicherweise ist das luftgekühlte Sportster-lmplantat schnell auf Betriebstemperatur, der Chokehebel kann in Ruhestand versetzt werden, und die Buell fällt im Leerlauf bei 1000/min in ein weit weniger erschütterndes Stakkato.

Einmal in Fahrt, glätten sich die Wogen erst recht. Die Buellsche Motoraufhängung gewinnt die Oberhand, der Motor ist mit seinem Vibrationen allein gelassen, es herrscht vollkommene Ruhe in den Lenkerenden, in Fußrasten und Sitzkissen.

Weniger ruhig geht es bei forciertem Tempo hinter der Verkleidung zu, die Form der Scheibe lenkt den anstürmenden Fahrtwind auf Kopfhöhe. Forciertes Tempo? Das bedeutet auf der Buell gebückt immerhin echte 185 km/h bei etwa 5200/min. Und bei diesem Speed zieht die RSS 1200 - kurzer Radstand und 65 Grad- Lenkkopfwinkel hin oder her - mit stoischer Ruhe ihre Bahn.

Weder lassen sich die üppig bemessenen Gummiwalzen von Längsfugen auf Abwege bringen, noch verliert die Buell auf holprigen Autobahnabschnitten ihre Contenance. Dass dabei die Hinterhand immer wieder harte Schläge an den Fahrer austeilt, mindert den Fahrkomfort, nicht aber die Richtungsstabilität. Der verdacht, die Federrate der Buell hinten sei auf Hamburger-getunte Amerikaner ausgelegt, erhärtet sich bei näherem Hinsehen: Selbst bei voll abgesenkter Federbasis lässt sich kein ausreichender Negativ-Federweg realisieren.

Einer einzigen Bremszange - immerhin mit sechs Kolben bestückt - ist es überlassen, für Tempoabbau zu sorgen. Von der schieren Bremswirkung her schafft sie das auch. Doch ob es an der Bremsleitung oder dem Harley-Hauptbremszylinder liegt: Der Druckpunkt könnte jedenfalls exakter, die Dosierbarkeit besser sein.

Ausgezeichnet mit der rechten Hand beherrschbar ist dagegen die Herde der nominell 59 Pferde des 1200er Motors. Das nutzbare Drehzahlband liegt zwischen 2000 und 5000,min, und nutzbar bedeutet, dass über die ganze Spanne tüchtig Dampf zur Verfügung steht. Da wird außerorts Schalten zum Ausnahmeereignis, alles spielt sich im dritten oder vierten Gang ab. Diese Triebwerkscharakteristik hat ausgesprochen beruhigende Wirkung auf den Fahrstil: Das Tempo wird mit dem Gasgriff reguliert, die Sinne können sich ganz darauf verlegen, den richtigen Strich auf vorzugsweise kurvigen Straßen zu finden.

Auf solchem Terrain ist die Buell ein willfähriger Partner, die Wurzeln, die auf transkontinentale Rennstrecken zurückreichen, werden spürbar. widerstandslos fügt sich die RSS 1200 dem Willen des Fahrers, ohne dass dieser nennenswerte Arbeit an den eigentümlich gekröpften Lenkerhälften leisten müsste. Wäre da nicht ein spürbares Aufstellmoment beim Bremsen in Schräglage, die Buell wäre das ideale Gerät zur entspannten, gleichwohl dynamischen Kurvenjagd.

Halt, da gibt es noch eine Einschränkung: Das Dreieck Sitzbank, Tankausbuchtungen und Fußrasten fixiert die Fahrhaltung mehr, als in manchen Fällen wünschenswert wäre. Langbeinige Zeitgenossen stoßen hier buchstäblich an Grenzen, müssen - sicher nicht im Sinne des Erfinders - die Knie außerhalb der Verkleidung anlegen. Jedermanns Sache kann die Buell aber auch abseits ergonomischer Erwägungen nicht sein: Dafür sorgen ihr Preis von knapp 35 000 Mark und minimale Stückzahlen - ganze 20 RSS 1200 sollen in diesem Jahr nach Deutschland rollen.

Mein Fazit
Was ist nun die Buell RSS 1200? Sicher keine Bimota- oder Ducati-Konkurrenz. Sie ist ein charakterstarker Untersatz für die Maschinisten unter den Motorradfahrern, die auf haarsträubende Fahrleistungen verzichten können, die bereit sind, Fehler zu korrigieren oder zu tolerieren, die aber gleichwohl nicht auf ein zeitgemäßes, kooperatives Fahrwerk verzichten wollen. BoT sei Dank. Der Preis von 35 000 Mark ist nach Harley-Maßstäben okay. Aber jeder muss für sich selbst entscheiden, ob ihm Harley den Maßstab setzt.

VON Jürgen Schmitz, erschienen in der MOTORRAD12/1992