Mit rasanten Sportmodellen strebt Harley-Davidson nach neuem Profil - jenseits des nostalgischen Easy-Rider-Image.
Auf der Batterieabdeckung unter der Sitzbank steht die Warnung: "Dies ist ein Hochleistungs-Rennfahrzeug. Der Gebrauch durch weniger geübte Personen kann zu schweren Verletzungen oder zum Tod führen."
Das Motorrad kommt aus den USA, dem Land der unbegrenzten Produkthaftung. Entsprechend deutlich sind die Worte, mit denen Harley-Davidson sich vorsorglich der Verantwortung für mögliche Fehlbedienungen seines neuen Modells zu entziehen sucht.
Das VR 1000 genannte Zweirad ist die stärkste und schnellste je gebaute Straßen-Harley: Mit 135 PS aus einem völlig neu entwickelten V-Zweizylindermotor spurtet sie in 3,8 Sekunden von null auf 100 km/h und soll je nach Übersetzung bis zu 280 km/h schnell sein. Weltweit können 50 Harley-Kunden in den Genuß solcher Fahrleistungen kommen. Zwei Exemplare der Kleinserie wurden nach Deutschland geliefert. Die zweifarbig lackierten Raritäten (links schwarz, rechts rot) stehen bei Händlern in Hannover und in Braunschweig.
Designchef William G. Davidson (Enkel des Firmengründers) orientierte sich bei der Formgebung der VR 1000 an europäischen und japanischen Sportmaschinen modernen Zuschnitts. Eine Verwandtschaft mit den übrigen Harley-Modellen ist nicht erkennbar.
Harley-Davidson gilt als Inbegriff unsportlichen Motorradbaus. Zur Kundschaft zählen inzwischen vorwiegend sattelfeste Erfolgsmenschen, die nach Dienstschluß auf wohltemperierten Boulevard-Expeditionen mit ihren lahmen, technisch veralteten Gefährten den "Easy Ridern" Dennis Hopper oder Peter Fonda nacheifern.
In dem Film von 1969 gurkten Fonda und Hopper als Gralsritter der sanften Protestbewegung durch das von Sinnkrisen zerrüttete Amerika. Fonda fuhr eine Harley mit Gabelrohren so lang wie Gardinenstangen und verbreitete berauschend-subversive Heilsbotschaften ("Am Morgen 'n Joint, und der Tag ist dein Freund").
Von Raserei keine Spur. Tollkühner Fahrstil liegt Harley-Fahrern fern. Verächtlich blicken sie auf die plastikstrotzenden "Joghurtbecher" japanischer und europäischer Herkunft. Darüber wird oft vergessen, daß Harley-Davidson in den USA durchaus auch eine sportliche Markenidentität pflegt.
So wurde der jetzt geltende Geschwindigkeits-Weltrekord auf zwei Rädern mit einem Harley-Antrieb erzielt. Der Amerikaner Dave Campos erreichte am 14. Juli 1990 auf den Bonneville Salt Flats in Utah 518,45 km/h. Sein sieben Meter langer, stromlinienförmiger "Easyriders Streamliner" verfügte über zwei Harley-Davidson-Motoren.
Aber auch bei anderen brachialen Spektakeln dominieren Harleys: bei "Dirt Tracks" auf Sandbahnen oder dem legendären "Widowmaker" (Witwenmacher) bei Salt Lake City, einem halsbrecherischen Bergrennen, bei dem die Teilnehmer auf erdigem Grund einen steilen Abhang empordonnern und sich nicht selten rückwärts überschlagen.
Den Sportsgeist der amerikanischen Motorradbauer wird nun auch die europäische Kundschaft stärker zu spüren bekommen. "Wir machen nicht nur alte Eisenhaufen von verkalkten Ingenieuren", verkündet Oliver Schmitt, Marketing-Mann beim deutschen Harley-Importeur.
Die Einzelstücke der VR 1000 stehen am Beginn einer neuen Modelloffensive. Zur kommenden Saison bietet Harley-Davidson in Deutschland zusätzlich Maschinen seiner Sportmarke Buell an, benannt nach deren Gründer Erik Buell, einem ehemaligen Harley-Konstrukteur.
Die getunten Harley-Zweizylinder der Buell-Modelle leisten 90 statt der serienmäßigen 60 PS und sorgen für Höchstgeschwindigkeiten jenseits der 200 km/h. "Teuflisch stark und höllisch schnell", titelte das Fan-Magazin Thunder Cycles in der Vorfreude auf die neuen Feuerstühle.
Etwa 20 000 Mark wird die günstigste Buell kosten - verglichen mit der Rarität VR 1000 ein fairer Preis. Der hannoversche Harley-Händler Matthias Korte gedenkt sein Exemplar für 100 000 Mark zu veräußern, an einen Enthusiasten, den die "reine Begeisterung" treibt. Denn trotz des hohen Preises gibt es keine Werkgarantie, keine Ersatzteilversorgung und keine Gewähr für die Straßenzulassung.
"Viel Streß", meint Korte, werde der Interessent bei einer Einzelabnahme durch den TÜV wohl in Kauf nehmen müssen, schon allein wegen des enormen Geräuschpegels.
Das Fachblatt Motorrad unterzog die selten schnelle Harley bereits einer Testfahrt. Beeindruckt vom Röhren des amerikanischen Renn-Rads, plädierte Tester Rainer Bäumel für einen weiteren warnenden Hinweis: "Das Starten des Motors in Tiefgaragen und geschlossenen Räumen kann zu Abplatzungen an Wänden und Decke führen."
© DER SPIEGEL 30/1996
Bis 2001 gab es eine Rennklasse für die VR, nun ist es still geworden.